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Titel
Den Süden erzählen. Berichte aus dem kolonialen Archiv der OECD (1948–1975)


Autor(en)
Hongler, Patricia
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
257 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Römer, Deutsches Historisches Institut London

Die Geschichte internationaler Organisationen (IOs) als maßgebliche agenda setters, Wissensproduzenten und Sozialräume von Globalisierungsprozessen wurde von der historischen Forschung erstaunlich lange vernachlässigt, doch im vergangenen Jahrzehnt hat das Feld durch eine wachsende Anzahl von Studien stark an Konturen gewonnen. Insbesondere aus Forschungsprojekten an schweizerischen Universitäten sind wegweisende konzeptionelle und empirische Beiträge hervorgegangen, häufig mit Blick auf einzelne IOs.1 An diese und andere Forschungen, welche die Geschichte internationaler Organisationen mit Studien zu Entwicklungsdiskursen, internationaler Politik und Perspektiven der Wissensgeschichte verbinden, knüpft auch die an der Universität Luzern bei Daniel Speich Chassé entstandene Dissertation von Patricia Hongler an.

Die Studie verfolgt die Diskussionen in den entwicklungspolitischen Komitees der OEEC/OECD, dem Overseas Territories Committee (OTC) und dem 1961 nachfolgenden Development Assistance Committee (DAC), als wichtige Foren des „Westens“ während der Phase der Dekolonisierung von 1948 bis 1975. Das Interesse der Studie richtet sich vor allem auf die „Argumentations- und Wahrnehmungsmuster“ (S. 16) der beteiligten Akteure, insbesondere der Repräsentanten der Mitgliedsstaaten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Techniken der Konsensfindung und Praktiken der Wissensproduktion, die mit dem Berichtswesen der OECD verbunden waren. Die oft sehr neutral und abstrakt gehaltenen OECD-Berichte werden hierzu mit der parallelen Überlieferung nationaler Delegationen (UK, USA, Schweiz, Portugal) kontrastiert – ein produktiver Ansatz, den bereits Matthias Schmelzer in seiner grundlegenden Studie zur OECD als „Tempel des Wachstums“ vorgeführt hat.2 Damit will Hongler zugrunde liegende „Narrative“ offenlegen (S. 27f.), in erster Linie allerdings mit Blick auf kulturelle Vorstellungen innerhalb der OECD-Gremien (S. 226), und weniger auf breitere diskursive Erzählungen, wie sie vielleicht der Buchtitel erwarten lässt.

Diesen Fragestellungen geht Hongler in sieben sorgfältig kontextualisierten Fallstudien nach und gelangt dabei zu vielen interessanten Einsichten, aus denen sie eine Chronologie von entwicklungspolitischen Paradigmen in der OECD herausarbeitet. In der frühen Nachkriegszeit wurden insbesondere die verbliebenen afrikanischen Kolonien als wirtschaftspolitische „Rettung“ betrachtet: Durch produktivitätssteigernde Entwicklungspolitik sollten sie das Dollardefizit in der Handelsbilanz lösen helfen und damit zum Wiederaufbau Europas beitragen (S. 39, S. 59f.). Im Kontext des Kalten Krieges und der sich beschleunigenden Dekolonisierung versuchte die OECD, insbesondere seit ihrer Neuerfindung von 1961, die kolonialen Kontinuitäten im OTC zu übertünchen, stand aber als „reicher Klub“ von Geberländern, von denen die Empfängerseite konsequent ausgeschlossen wurde, weiterhin unter Imperialismusverdacht (S. 90, S 96–99, S. 108–110). Als politische Bedrohung wurden die Entwicklungsländer spätestens durch ihr geschlossenes Auftreten auf der UN Conference on Trade and Development (UNCTAD) von 1964 wahrgenommen: Die Konferenz markierte die Trennlinien im beginnenden Nord-Süd-Konflikt und veranlasste das DAC, sich als „Stimme des Westens“ neu zu definieren (S. 149, S. 157ff.). Die verstärkte Abgrenzung von der „Dritten Welt“, anstatt wie bisher vor allem vom „Osten“, erfolgte auch durch die Betonung der eigenen Objektivität gegenüber der Emotionalität der anderen, wobei ältere paternalistische Muster des Kolonialismus aktualisiert wurden (S. 139f., S. 162f.). Die Selbstvergewisserung als rationale westliche Handlungsgemeinschaft war ab Mitte der 1960er-Jahre auch den OECD-Berichten zum Welternährungsproblem eingeschrieben, in denen die „Bedürftigkeit“ der Entwicklungsländer als drittes Narrativ nach „Rettung“ und „Bedrohung“ etabliert wurde (S. 187f.).

Diese Narrative dienten „in erster Linie“ der Selbstverortung und -legitimierung, so eine These der Studie (S. 226), die freilich vor allem von den Länderdelegationen handelt, während das Sekretariat und konsultierte Experten kaum als eigenständige Akteure in der OECD hervortreten. Gleichwohl: Die Strategien und Interessen, die von den nationalen Delegationen formuliert wurden und in Berichte und Positionen der OECD eingingen, konkretisieren die Rolle von Staaten und Regierungen als wichtige Akteure, ohne dass dabei zwangsläufig nationale Container reifiziert oder transnationale Kontexte und Verflechtungen ignoriert werden. Die Leitlinien und Paradigmen der internationalen Entwicklungspolitik europäischer Staaten im Spannungsfeld von Kaltem Krieg, Dekolonisierung und Europäischer Integration sind aus der aktuellen Literatur bereits bekannt.3 Im Hinblick auf die OECD sind sie freilich noch nicht in Buchlänge beschrieben worden.4

Besonderen Mehrwert hat die Studie im Hinblick auf die Machterwägungen und politischen Konflikte um das statistische Wissen. Die globalen Debatten um die Etablierung internationaler Statistiken und neuer sozialer Metriken in der Entwicklungspolitik sind in der historischen Forschung ein aktuelles Thema.5 Für den Anschluss an die ältere und aktuelle Forschung zur Geschichte und Wissenssoziologie der Statistik, die Hongler an verschiedenen Stellen kurz diskutiert, wäre von daher ein prominenterer konzeptioneller Ort auch in der Einleitung wünschenswert gewesen. Dies gilt umso mehr, als ihre Studie das Bild von der OECD als Produzentin wichtiger statistischer Standards und Daten in mancher Hinsicht in ein anderes Licht rückt.6

Die Produktion und Publikation von internationalen Statistiken wurde in der OECD zunächst vor allem von der britischen Delegation aus Sorge vor „embarrassing reports“ oft ausgebremst, etablierte sich aber während der 1950er-Jahre als neue Normalität (S. 43–46, S. 58f., S. 60f., S. 66f., S. 71). Viele Kolonien und Entwicklungsländer verfügten weiterhin nur über schwach ausgebildete statistische Apparate, sodass sie in dieser Hinsicht tatsächlich kaum als „Laboratorien der Moderne“ angesehen werden können (S. 53f.). Auf Seiten der Geberländer etablierte die OECD seit 1961 jedoch die Praxis von vergleichenden Statistiken über nationale Entwicklungsbudgets, die langfristig zur Definition eines internationalen Zielwerts führten (S. 195, S. 202–220). Dieser zentrale Teil der DAC-Aktivitäten blieb allerdings stark umstritten. Die Zahlen generierten politischen Druck, weil sie das Stagnieren oder sogar den Rückgang der internationalen Entwicklungshilfe während der 1960er-Jahre sichtbar machten (S. 175f.). Die OECD-Statistik wurde auch selbst zum Gegenstand der Kritik, weil sie durch großzügige Messmethoden die westliche Entwicklungshilfe überschätzte (S. 204f.). So konnte Portugal Mitte der 1960er-Jahre selbst die Mittel für die Aufstandsbekämpfung als Entwicklungshilfe ausweisen (S. 211f.). Entscheidend dafür war der jahrelange Widerstand im DAC gegen die Verabschiedung einer präzisen quantifizierbaren Definition – bis das DAC durch einen Vorstoß von UNCTAD 1968 unter Zugzwang geriet (S. 199–203). Einerseits machten die Statistiken wichtige politische Themen in neuer Weise verhandelbar, wie Hongler betont (S. 85f., S. 226). Andererseits wird deutlich, dass sie auch ganz eigene Konflikte und Dynamiken generierten, die das DAC oft in die Defensive drängten.

Ein wichtiger Teil dieser Dynamiken und Deutungskämpfe um ökonomisches Wissen entspann sich zwischen der OECD und anderen IOs. Durch ihre Analysen dieser Interaktionen überwindet Hongler vielfach die ethnozentrische Perspektive der OECD und lenkt den Blick immer wieder auch auf diverse zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen des Globalen Südens wie UNCTAD, deren Aktivitäten oft größeren Einfluss auf mediale Diskurse und Narrative entfalteten (S. 166, S. 188, S. 202f.). Zugleich trägt sie mit ihren instruktiven Fallstudien indirekt zu der aktuellen Forschung über inter-institutionelle Konkurrenz und Kooperation zwischen IOs bei.7 So wird deutlich, dass die OECD-Berichte vielfach den Zweck verfolgten, den Berichten konkurrierender IOs entgegenzutreten und den eigenen Deutungsanspruch zu betonen (S. 147f., S. 164, S. 206f.). Manche Delegationen nutzen die OECD außerdem zum forum-shopping, zum Beispiel um das Hunger-Thema nicht der UN Food and Agriculture Organisation (FAO) zu überlassen (S. 185). Bei der Festlegung des Entwicklungshilfeziels auf einen Prozentsatz des Bruttosozialprodukts reagierte das DAC wiederum auf den Aktivismus von Kirchen, Ökonomen und UN-Gremien (S. 202–204). Frühere Initiativen der UN zur Etablierung globaler Statistiken über Lebensstandards während der 1950er- und 1960er-Jahre wurden freilich in anderen Foren diskutiert und geraten somit nicht in den Blick der Studie.

Honglers Studie bereichert die Forschung zur Geschichte der OECD, indem sie die Strategien des „Westens“ in der internationalen Entwicklungspolitik aus einer neuen Perspektive exploriert. Insbesondere unterstreicht sie das Potential der aktuellen wissensgeschichtlichen Forschung zu internationalen Organisationen als Wissensproduzenten und Akteure in politischen Prozessen der Quantifizierung der Welt.

Anmerkungen:
1 Grundlegende Arbeiten zur Geschichte der OECD etwa waren der in Zürich angesiedelten und von Matthieu Leimgruber geleiteten Projektgruppe „Warden of the West“ zu verdanken. Die Forschungen von Daniel Speich Chassé haben die Bedeutung der Vereinten Nationen für die Durchsetzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen als globale epistemologische Ordnung beleuchtet, durch die makroökonomisches Wissen, insbesondere das Bruttosozialprodukt, nicht nur in der internationalen politischen Ökonomie, sondern auch in der politischen Kultur der Nachkriegszeit tief verankert wurde. Schon in einem Sonderheft von 2011 haben Speich Chassé und Alexander Nützenadel eine Forschungsagenda zur Geschichte der globalen Ungleichheit angeregt, in der IOs als Ausgangspunkt für die Analyse globalhistorischer Prozesse bei der Etablierung internationaler Normen und epistemologischer Praktiken dienen. Vgl. hierzu http://oecdhistoryproject.net/ (15.01.2020). Daniel Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013; Alexander Nützenadel / Daniel Speich Chassé, Editorial. Global Inequality and Development after 1945, in: Journal of Global History 6 (2011), S. 1–5.
2 Matthias Schmelzer, The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm, Cambridge 2016, S. 19.
3 Corinna R. Unger, Postwar European Development Aid. Defined by Decolonization, the Cold War, and European Integration?, in: Stephen J. Macekura / Erez Manela (Hrsg.), The Development Century. A Global History, Cambridge 2018, S. 240–260.
4 Matthias Schmelzer, A Club of the Rich to Help the Poor? The OECD, “Development”, and the Hegemony of Donor Countries, in: Marc Frey / Sören Kunkel / Corinna R. Unger (Hrsg.), International Organizations and Development, 1945–1990, Basingstoke 2014, S. 171–195.
5 Stephen Macekura, Whither growth? International Development, Social Indicators, and the Politics of Measurement, 1920s-1970s, in: Journal of Global History 14/2 (2019), S. 261–279.
6 Schmelzer, Club of the Rich, S. 172.
7 Wolfram Kaiser / Kiran Klaus Patel, Multiple Connections in European Co-Operation. International Organizations, Policy Ideas, Practices and Transfers 1967–92, in: European Review of History. Revue Européenne d'Histoire 24 (2017), S. 337–357.

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